Inhalt:
In der Nacht vor ihrer Hochzeit verlässt Sarah Hals über Kopf New York. Gerade noch rechtzeitig hat sie erkannt, dass ihr Bräutigam nicht der Mann ihres Lebens ist. Mit hunderttausend Dollar in der Tasche, die sie von seinem Konto entwendet hat, will sie einen Neuanfang wagen. In einer kleinen Bar im verregneten Buffalo begegnet sie Lenny Hyde, der seinerseits mit einem 57er Chevy und seinem Labrador an jenen Ort zurückkehren will, wo er einst so glücklich war; an den Ufern der Großen Seen. Nur ein paar Briefe sind ihm von seiner großen Liebe Christine geblieben und die furchtbaren Alpträume, in denen er Christines Cessna über dem Lake Superior explodieren sieht.
Gemeinsam beginnt das ungleiche Paar Sarah und Lenny eine abenteuerliche Reise, die sie immer weiter in die einsamen Landschaften der großen Seen von Ohio und Michigan bis hinauf zur kanadischen Grenze führt.
Sie übernachten in billigen Motels, werden ausgeraubt, geraten in eine Straßensperre, und werden von Sarahs Bräutigam verfolgt. Sie hängen ihren unerfüllten Träumen und schmerzvollen Erinnerungen nach und öffnen sich ganz allmählich zarten Gefühlen füreinander. Doch über ihr unerwartetes Glück fällt ein tiefer Schatten, denn Lenny ist todkrank. In der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt, hat er einen letzten Wunsch: Er möchte noch einmal nach Manitoulin Island fahren, jene Insel im Lake Huron, wo er sterben will. Verzweifelt kämpft Sarah um sein Leben und ihre Liebe.
Michael Romahn:
Am Ufer der Großen Seen
284 Seiten, zu beziehen unter:
www.amazon.de, oder im Buchhandel
ISBN3-426-62191-6
Prolog
Irgendwo, tief im Inneren, lebte die Erinnerung, unterschwellig, wie ein Fluss, der unterirdisch weiterfliesst. Es war eine sonderbare Mischung aus Traurigkeit und Freude, und Sarah wusste, dass es das eine ohne das andere nie gegeben hätte. Sie war müde und konnte dennoch keinen Schlaf finden. Manchmal, in stillen Nächten wie dieser, am Rande eines Traums, hörte sie ein Flüstern; gedämpft, von weit her. Dann wachte sie auf, aber es war niemand da. Die Furcht vor der Einsamkeit ließ sie nicht los, und das verwirrte sie.
Sie lag auf dem Bett, den Kopf auf die Hand gestützt, und atmete leise. Sie hörte den klagenden Gesang eines Kojoten, lang gezogen und voller Traurigkeit. Sie sah sein struppiges Fell vor ihrem geistigen Auge und streckte ihren Arm aus, um ihn zu berühren. Dann stand sie auf um nach Dreamer, Lennys cremefarbenem Labrador, zu sehen, und blickte aus dem Küchenfenster zum See, der im Mondlicht wie flüssiges Silber schimmerte. Der Himmel aus schwarzem Samt ließ die Zeit ruhen. Lichtfunken sprühten herab. Sie sahen aus wie Glühwürmchen, doch sie erloschen, bevor sie auf die Erde fielen. Unwillkürlich tauchten verschwommene Bilder der Erinnerung wieder auf. Ein hölzernes Kreuz am Rand des Highways, darunter ein Strauß frisch gepflückter Wildblumen, friedlich grasende Hereford-Rinder, die träge ihre Köpfe hoben und senkten. Und über all dem lag der leise Ruf eines unsichtbaren Falken. Der Labrador stand unten am Ufer im Wind und bellte in die tiefblaue Nacht.
Am nächsten Morgen starrte sie aus dem Fenster und sah zur nebelverhangenen Bucht hinaus. In ihrer Magengegend rumorte es wie in einem Bergwerk. Der morgendliche Dunst deckte alles zu, selbst die vorüberziehenden Schiffe versanken darin. Sarah blickte suchend umher, aber es machte keinen Sinn, wenn man nicht wusste, wonach man eigentlich suchte. Sie schaute hinauf zur blassen Sonne. Sie war ohne Wärme und ließ das Land gläsern und kraftlos erscheinen.
Das Wasser des Sees war zerfurcht durch den ständigen Wind. An den Ufern verrotteten längst verlassene Stege und zum Schutz vor dem Eis ins Schilf gezogene Boote. An manchen Stellen flossen Abwässer durch versteckte Rohre in den See. Hier war das Wasser brackig vom aufgewirbelten Schlamm. Früher war ihr dies nie so aufgefallen.
Das gebrochene Licht des neuen Tages drang durchs Küchenfenster. Es war kalt und trüb. Selbst der rabenschwarze, bittere Kaffee konnte ihre bleierne Trägheit nicht vertreiben. Dreamer schlich herein, wuselte eine Weile um ihre Beine herum und legte sich schließlich zu ihren Füßen nieder. Es roch immer noch nach Kirschpfannkuchen vom gestrigen Abend. Eine Schüssel mit süßem Apfelmus stand noch auf dem Tisch, in der Spüle türmte sich das dreckige Geschirr der letzten Mahlzeiten. Für Augenblicke ruhten ihre Augen auf einem Foto aus ihren High-School-Tagen. Ihr unbekümmertes Lächeln als junges Mädchen kam ihr seltsam fremd vor.
Sarah setzte sich an den Küchentisch und stützte das Kinn in die rechte Hand, während die andere den Kaffeebecher fest umschloss. Lennys Gegenwart schwebte immer noch durch den Raum, klebte an allen Gegenständen. Sie wurde unruhig und wusste nicht, warum. Es gab solche Tage, es würde sie immer geben, Tage, die bedrohlich wirkten wie schwarze Wolkentürme am Himmel. Sie goss den Rest des Kaffees in die Spüle, ging ins Bad und sah in den Spiegel. Sie betrachtete ihre blassen Lippen, blickte in Augen, die nichts zurückgaben. Sie strich sich durchs rote Haar. Sie trug es jetzt kürzer als früher. Das Leben veränderte Menschen.
Wenn Sarah in den leeren Tag hinausging, glaubte sie, sich im Kreis zu drehen. Der See lag unberührt im Morgennebel. Die dünnen Äste der Uferweiden hingen schlaff herunter. Weit oben, über den trägen Schleiern, vernahm sie das ferne Geräusch eines Flugzeugs. Sie hob ihr Gesicht dem Himmel entgegen. Es fiel ihr immer noch schwer, die Einsamkeit zu akzeptieren. Sie war hier nicht aufgewachsen, vielleicht lag es daran. Doch Iowa, ihre Heimat, kam ihr vor wie ein fernes, längst vergessenes Land.
Sarahs Eltern, Ed und Betty, weigerten sich immer noch, ihre schöne Farm in Iowa zu verkaufen. Immer und immer wieder hatte Sarah versucht, sie davon zu überzeugen, aber Stunden voller bittender Worte hatten nicht ausgereicht, sie umzustimmen. Ed meinte, dass man alte Bäume nicht mehr umpflanzen könne, dass es sinnlos wäre, die verschlungenen Wurzeln aus der harten Erde ziehen zu wollen. Vielleicht hatte er sogar Recht, nein, ganz sicher sogar, aber er war zu schwach geworden, um sechzig Hektar Land alleine zu bestellen. Sie sah das Gesicht ihres Vaters wie ein verschwommenes Bild vor sich. Seine wettergegerbte Haut war von tiefen dunklen Falten durchzogen, die Risse in getrockneter Erde ähneln.
Mom ging es nicht gut. Die Ärzte hatten sie nach Hause geschickt. Sie schwiegen beharrlich, sagten nicht, wie viel Zeit ihr noch blieb. Die Krankenschwestern lächelten milde, um zu beruhigen, aber das Lächeln war nicht ehrlich – es war gestellt und gefühllos. Ed hatte erzählt, dass Mom oft im Schlaf sprach, von Engeln mit goldenen Flügeln phantasierte. Ed glaubte zu spüren, wie die Seele aus ihrem alten Körper wich.
Letzte Woche erst hatte Sarah sie besucht. Mutters Haare waren stumpf und glanzlos geworden. Ihr Gesicht wirkte bleich und eingefallen. Sarah brachte ihr einen Becher heiße Milch mit Honig und setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
»Wenn du wieder gesund bist, fahren wir an den Michigan-See«, versprach sie, aber Mom war in Gedanken zu weit weg, um die Worte ihrer Tochter zu hören. Sie blickte Sarah mit verwirrten Augen an, während sich ihre Hände um den wärmenden Becher klammerten.
»Du hast mir versprochen, dass wir beide hinfahren.«
»Du bist zu ungeduldig, Mom«, sagte Sarah. »In deinem Zustand holst du dir dort den Tod.«
»Immer noch besser, als hier im Bett zu liegen und dieses süße Zeug zu trinken.« Mom versuchte aufzustehen, aber sie war zu schwach und sank wieder ins Kissen zurück.
»Die Beine wollen nicht mehr so«, sagte sie milde lächelnd, aber ihre Stimme klang flach und tonlos.
»Mom, bitte!« Sarah führte ihr den Becher zum Mund und zog ihre Hand erst wieder zurück, als ihre Mutter einen kräftigen Schluck genommen hatte. Als Sarah ihre Grimasse sah, musste sie lächeln.
»Erinnerst du dich noch daran, was du mir zu trinken gabst, als ich nach einer Woche Zeltlager so erkältet war, dass ich kaum noch ein Wort herausbekam?«
»Heiße Milch mit Honig, nehme ich an«, knurrte Mom mit verkniffenem Mund.
»Heiße Milch mit Honig«, bestätigte Sarah, strich ihr liebevoll über die Wangen und machte sich auf den Weg nach Hause.