Rückkehr nach Campbell River

1. September 2004

Inhalt:

San Francisco, August 1999: Auf einer Bank vor der Golden Gate Bridge wird ein alter, verwahrloster Mann aufgegriffen. Da er weder seinen Namen noch seine Herkunft preisgibt, steckt man ihn in ein Heim, wo der Pfleger Tom die ersten Symptome der Alzheimer Krankheit an ihm bemerkt. Langsam gelingt es Tom, dass Vertrauen des alten Mannes zu gewinnen, und allmählich bricht dieser sein Schweigen. Tom dringt mehr und mehr in die dunkle Vergangenheit des Mannes ein und überredet ihn, nach Campbell River zurückzukehren, wo er vor 36 Jahren seine große Liebe verlassen hatte.

Campbell River, August 1963: Nach dem Tod ihres Freundes Danny verlässt Norma ihre Heimat Vancouver Island und flieht nach Kenia, wo sie als Krankenschwester in einer Mission arbeitet. Als ihr Vater im Sterben liegt kehrt sie zurück. Doch sie kommt zu spät. Ihr Vater, der ihr über all die Jahre mit Distanz und Hartherzigkeit  gegenübergetreten war, hatte Selbstmord begangen. An Bord seines Fischerbootes, der Antonia, findet Norma Aufzeichnungen und Briefe, die ihren Vater plötzlich in einem anderen Licht erscheinen lassen. Sie ist fasziniert von seiner tiefen Liebe zu den Walen und dem unendlichen Ozean. Als sie erfährt, daß ihr arbeitsscheuer Bruder Frank hinter dem Rücken ihrer Mutter das Elternhaus und das Schiff verkaufen will, um seine verschuldete Autowerkstatt zu retten, beschließt Norma, entgegen ihrer ursprünglichen Absicht zu bleiben, die Antonia umzubauen und Touristen zu den Walen aufs Meer hinauszufahren.

Eines Abends trifft sie den verschlossenen Fotografen Brian Davis auf dem Pier. Seine Frau Helen ist bei einer Bootstour ums Leben gekommen, und als kurz danach das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter Laura Helens Eltern zugesprochen wird, zieht er sich in die Einsamkeit des Sarita River zurück. Nach anfänglicher Distanz beginnen Norma und Brian einander zu vertrauen und zu lieben. Ein Einbruch ins Bootshaus jedoch wirft die ersten Schatten auf ihr unerwartetes Glück. Und als ein paar Tage später die Antonia, durch einen mysteriösen Maschinenschaden manövrierunfähig in einen Sturm gerät, kommt es beinahe zur Katastrophe.

San Francisco, September 1999:  Als alter, gebrochener Mann kehrt Brian Davis schließlich zusammen mit seinem Pfleger Tom an die Westküste Kanadas zu. Er weiß, daß ihm nur noch wenig Zeit bleibt, den Kreis seines Lebens zu schließen und als Campbell River vor ihnen liegt, wächst die Angst vor dem Wiedersehen mit Norma ins Unerträgliche.

Michael Romahn:
Am Ufer der Großen Seen

284 Seiten, zu beziehen unter:
www.amazon.de, oder im Buchhandel

ISBN3-426-62191-6

Rückkehr nach Campbell River

Erstes Kapitel

San Francisco, August 1999

Wie ein verschwommenes Gemälde stieg die Golden Gate Bridge an diesem Augustmorgen aus dem weißen Nebel hervor, und das schimmernde Blau des Himmels drängte sich mehr und mehr durch die zerrissenen Wolken. Die Luft roch immer noch nach dem Regen der vergangenen Nacht, aber es versprach, ein sonniger Tag zu werden.

Schon seit Tagen hockte der alte Mann auf der hölzernen Bank am Ufer der Bucht und starrte mit verlorenem Blick vor sich hin. Der schleichende Nebel verwischte die klaren Konturen des Nordufers. Der weiße Schleier trieb in dünnen, übereinander liegenden Schwaden über das Wasser, und es sah so aus, als würde die Brücke mit ihren roten, stählernen Pfeilern auf Watte getragen. Ihre schwermütige Schönheit hielt ihn gefangen, aber sie war nicht greifbar und zerfloss, sobald er verzweifelt die Hände nach ihr ausstrecke. ‚Denk mit dem Herzen‘, mahnt ein altes indianisches Sprichwort; doch wie in Gottes Namen, fragte er sich wie so oft in den letzten Jahren, kann ein blutendes Herz einen klaren Gedanken fassen. Er schloss die Augen und sehnte sich danach, bis zur Mitte der Brücke zu gehen und von ihrem höchsten Punkt über der Bucht in eine unbekannte Welt zu springen. Dann malte er sich aus, wie sein alter Körper an der tiefsten Stelle ins kalte Wasser sank und still und unbeachtet unterging. Verbrauchte Luft würde seinem Mund entweichen und in sprudelnden Bläschen dem Tageslicht entgegen steigen. Nur die Augen würden durch die Wasseroberfläche dringen und sehen, wie die Sonne in Myriaden von funkelnden Sternen auf den Wellen trieb. In Gedanken versunken hob er den Kopf aus dem Wasser, durchbrach das friedliche Spiegelbild der weißen Wolken auf dem blauem Grund und atmete die kalte, klare Luft des Morgens ein. Allein die Vorstellung, dass ein Teil seines Geistes bereit war, dem trostlosen Leben ein Ende zu bereiten, brachte sein träges Blut in Wallung, aber so sehr sich seine kranke Seele auch wünschte, der alternde Hülle für immer zu entschweben, der Selbsterhaltungstrieb des Menschen war stärker, als er geglaubt hatte. Der Alte fingerte das zerknittertes Foto aus der Manteltasche und betrachtete es lange. Es zeigte ein prächtiges Orcaweibchen, das umhüllt von glitzernden Schleiern durch die Wasseroberfläche brach und sich dem klaren, weiten Himmel entgegenstreckte. Normas Schrift auf der Rückseite war kaum noch zu entziffern.

‚Ich spüre ein sonderbare Gefühl tief in meinem Inneren,
und ich will nicht, dass es von mir weicht,
bevor ich nicht weiß, was es ist.
Norma‘

Jedes Wort hatte sich fest in sein Gehirn gebrannt und dennoch wanderte sein Blick immer wieder über diese Zeilen. In diesem Augenblick kam ihm sein Leben wie eine einzige Sinneswandlung vor. Mit einem Male sah er alles mit einer unbeschreiblichen Klarheit vor sich: Campbell River, das verträumte Fischerdorf mit seinen Holzhäusern, die schwankenden Boote an der Pier, das leuchtende Blau in Normas Augen, ihr stilles, in sich gekehrtes Lächeln an jenem Nachmittag an Bord der Antonia. Normas Bild, das er vor sich sah, war so vollkommen, dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie war im plötzlich so nah, dass er glaubte, die warme Haut ihres Körpers spüren zu können.

Er steckte das Foto wieder ein und hob langsam den Kopf. Ein junges Mädchen joggte zu den hämmernden Rhythmen ihres Walkmans an ihm vorbei. Sie verlangsamte ihre Schritte und streifte ihn mit ihrem Blick. Sie schlug ihre rehbraunen Augen nieder, nur einen Wimpernschlag lang, aber es reichte, um in ihnen zu versinken. Sie war hübsch. Ihr langes, weiches Haar fiel wie fließendes Wasser über ihre Schultern. Eine Weile sah er ihren wiegenden Hüften hinterher, dann verschwand sie wieder aus seinem Leben. Seine Augen entdeckten ein Pärchen, das eng umschlungen über den Uferweg schlenderte, verliebte Stimmen, und Blicke, die ineinander verschmolzen. Er kümmerte sich nicht weiter um sie. Er hatte es gelernt, allein zu sein.

Am Tage machte ihm die Einsamkeit nichts aus, denn das hektische Treiben der ruhelosen Stadt blendete mehr und mehr seine Sinne. Er zog ruhelos durch die Straßen, lebte von dem Geld, das ihm Fremde für ihre aufdringlichen Blicke zu Füßen warfen und nahm im Getümmel China Towns ein paar Bissen zu sich. Erst in der Nacht, wenn die Leute in ihre Häuser zurückkehrten, spürte er, wie die Wärme aus seinen Gliedern kroch und eine erkaltete Hülle zurückließ. Er hatte es aufgegeben, die Tage zu zählen. Nichts erschien ihm mehr von solcher Wichtigkeit, dass es sich lohnen würde, seine schwindenden Kräfte dafür zu vergeuden. Seine harten Gesichtszüge früherer Jahre waren erschlafft, und tiefe, ineinander laufende Furchen gruben sich tief in seine Haut. Die dünnen Beine, die ihn mehr als fünfundsechzig Jahre durchs Leben getragen hatten, waren von dicken, schmerzenden Krampfadern durchzogen. Sie schlängelten sich wie ausgelaufene schwarze Tinte unter der Haut entlang und ließen jeden Schritt zur Qual werden. Aber es war nichts Besonderes in diesem Stadium seines Lebens. Er würde sterben, hier, an diesem Ort, an dem er niemals zu Hause war.

Wie an den Tagen zuvor hing das fleckige Hemd über den alten Jeans. Der zerschlissene Mantel und die ausgetragenen Stiefel halfen nur noch wenig gegen den rauen Pazifikwind. Wäre sein Vater noch am Leben, hätte er seinen erbärmlichen Anblick womöglich mit außergewöhnlicher Zufriedenheit zur Kenntnis genommen. Er war seit jeher davon überzeugt gewesen, dass sein Sohn es nie zu etwas bringen würde.

An diesem Punkt seines Lebens besaß er nichts weiter als das, was er am Leibe trug und seinen Hund No Name. Der Mischling streckte die Vorderbeine von sich, stieß einen tiefen Seufzer aus und rollte sich wieder zusammen. Wenigstens er schien im Einklang mit sich selbst zu sein. Er hatte den Hund hinter den Müllcontainern einer Tankstelle gefunden, irgendwo nördlich von Sacramento; abgemagert, namenlos und vergessen, wie er selbst. Und da ihm kein passender Name einfallen wollte, beschloss er, es auch dabei zu belassen. No Name war nicht viel größer als die Reifen eines gewöhnlichen Pick-up’s, und sein Fell war so grau wie erkaltete Asche. Die Finger des alten Mannes gruben sich in das zottelige Fell, und No Name schien es zu genießen, denn er hob seinen Kopf, als wolle er den Mond anheulen, und legte die Ohren genussvoll an.

Der Alte blinzelte in die aufsteigende Sonne und stellte sich vor, wie die Frauen an den Gräbern ihrer geliebten Männer trauerten, wie sie das Unkraut jäteten und einmal in der Woche frische Blumen auf die schwarze Erde legten. Eines Tages würde man auch ihn begraben, und auf dem Grabstein würde nur ein belangloser Name stehen, den niemand kannte. Niemand würde je erfahren, was für ein Mensch er wirklich war, welches Leben er gelebt hatte, und das welke Laub der Bäume wird auf sein Grab wehen, vermodern und zerfallen, lange bevor der Winter seine weiße Decke über alles gelegt hätte.

Aus dem alternden Gesicht war das Lächeln gewichen, und das kräftige Grün seiner Augen war stumpf und durchscheinend geworden. Manchmal glaubte er zu spüren, dass ein Teil seines Gehirns allmählich vertrocknete wie ein abgebrochener Zweig. An schlechteren Tagen fiel es ihm sogar schwer, No Name’s Winseln, den hellen Glockenschlag einer Kirchturmuhr oder das Hupen entfernter Autos wahrzunehmen. Die Welt bestand dann aus gezähmten Tönen, dumpf und ineinander verschlungen wie Donnerschläge in der Ferne, aber es geschah nicht regelmäßig, und nie in der gleichen Stärke.

Der Trailer, in dem er noch vor einigen Wochen übernachtet hatte, war nur noch ein Haufen zusammengepresstes Aluminium. Pete Collins, ein wortkarger Pferdezüchter, den er in einer dunklen Bar in Santa Rosa traf, hatte ihm angeboten, seinen Trailer auf dem Grundstück abzustellen. Im Gegenzug hatte sich der Alte ein wenig um die Pferdeställe gekümmert, die Tiere nach den Ausritten gestriegelt und gefüttert. Nach Collins‘ plötzlichem Tod gab es niemanden mehr, der sich um die Farm kümmerte. Die Bank verkaufte die Überreste einer glorreichen Zeit, um an ihr Geld zu kommen, und der neue Besitzer jagte ihn von einem Tag auf den anderen fort. Acht Wochen war es jetzt her, und in den kühler werdenden Nächten vermisste er den Gaskocher mit seiner bläulichen Flamme, einen Becher heißen Kaffee und ein warmes Essen, das Collins ihm jeden Mittag brachte. Sein Vater hat Recht behalten. Er hatte versagt, ohne dass er die Gründe dafür benennen konnte.

Die müden Augen des alten Mannes folgten dem lautlosen Flug eines Kormorans. Er schwebte dicht über dem Wasser Richtung Norden; wachsam und bereit, sich im nächsten Augenblick auf die Beute zu stürzen. Er hatte plötzlich das Gefühl, als würde eine verschollene Erinnerung in sein Bewusstsein zurückkehren, aber es war schon zu lange her, um sie wieder in sich aufzunehmen. Es war so, als würde er von der nächsten Welle unter Wasser gezogen. Er spürte das salzige Wasser, wie es sich wieder durch seine Kehle in den Körper fraß. Er fühlte stärker denn je, dass ihm das Leben mehr und mehr entglitt, dass es allmählich zerfiel wie ein verrotteter Baumstamm im Dickicht des Regenwaldes.

Plötzlich hörte er murmelnde Stimmen, dann gedämpfte Schritte auf dem weichen Gras, und schließlich spürte er eine kräftige Hand auf seiner Schulter. Officer Landsby, ein schwergewichtiger Koloss mit streichholzkurzen Haaren, baute sich vor ihm auf. Sein Kollege ging zum Streifenwagen, kam mit einer Wolldecke unter dem Arm zurück und legte sie über die Schultern des Alten. Er war ein wenig kleiner als Landsby, aber genauso breit. Er ging ein paar Schritte zurück und wartete mit steinerner Miene auf weitere Anweisungen. Landsby fragte freundlich lächelnd nach seinem Namen und wo er wohne, aber der Alte schwieg, sah ihn nicht einmal an. Der Officer wich ein Stück zurück, als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und der Alte bemerkte deutlich, wie die gespielte Freundlichkeit des Officers in nervtötende Routine überging.
Als sie auf dem Weg zum Department die Jackson Street kreuzten, schauten sich die Polizisten kurz an und nickten sich zu. Der Officer legte seine kräftige Hand auf die Schulter des Alten. Eine Geste des Mitgefühls, aber er glaubte, in Landsbys Augen einen Hauch von Verachtung zu erkennen.

Vielleicht war es auch nur die alltägliche Arbeit, die solche Art von Emotionen mit der Zeit tötete.

„Jackson klingt nicht schlecht“, meinte Landsby und blinzelte dem Mann zu. „Natürlich nur, solange wir nicht wissen, wer Sie wirklich sind!“ Der Officer schien auf eine Reaktion zu warten, doch der Mann würdigte ihn keines Blickes und sah stumm aus dem beschlagenen Seitenfenster. Schließlich gaben es die Polizisten auf und ließen ihn in Ruhe.

Dem Alten fiel plötzlich ein Zeitungsartikel über einen kleinen Jungen ein, den man vor vielen Jahren auf einer Straße in Jacksonville/Illinois gefunden hatte. Er war taub und blind und außerstande, auch nur eine Silbe von sich zu geben. Da niemand seine wahre Identität heraus bekam, nannte man ihn einfach John Doe Nr. 24, weil er der 24. unidentifizierte Mensch war. Das blieb er auch bis zu seinem Tod, und selbst an seinem billigen Grab gab es niemanden, der ein paar Worte hätte sagen können.

Im Büro des Officers reichten sie ihm einen Plastikbecher mit Kaffee. Er war dünn und viel zu heiß. Eine Ärztin kam durch die gläserne Tür. Er stand mit dem Rücken zu ihr gewandt am Fenster, aber er spürte die Vibrationen ihrer Schritte und ihren warmen Atem, als sie sich behutsam näherte.

Als er ein aufmunterndes ‚Hallo‘ vernahm, drehte er sich langsam zu ihr. ‚Dr. Connelly‘ stand auf dem kleinen Schild über ihrer linken Brust. Sie hatte ein schmales Gesicht mit dünnen, lang geschwungenen Brauen und wundervolles gelocktes Haar. Es war schwarz und glänzend wie der nächtliche Sternenhimmel über San Francisco, und für einen winzigen Augenblick dachte er daran, mit seinen Fingerspitzen über ihre zarte, sonnengebräunte Haut zu streichen, weil er das Gefühl einer solchen Berührung schmerzlich vermisste. Ihre haselnussbraunen Augen flogen über den Bericht des Officers. Sie musterte ihn von oben bis unten, kontrollierte den Puls und bat ihn, das Hemd aufzuknöpfen.

„Soweit ist alles in Ordnung“, sagte sie nach einer Weile, während sie die Enden des Stethoskops aus ihren Ohren nahm. „Aber es wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis Sie wieder zu Kräften kommen. Außerdem würde ich Sie gern in meiner Praxis genauer untersuchen.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber er wusste nicht so recht, ob er das wollte. Er fürchtete, dass sie seine Seele auseinander brechen und sein Leben ausweiden würde, als wäre er ein totes Stück Vieh. Aber sie würde nicht ans Ziel kommen, solange er sich ihr nicht öffnete. Gegen Mittag brachte ihn einer von Landsbys Leuten zu Dr. Connellys Praxis. Als sie ihre Untersuchungen beendet hatte, fragte auch sie, woher er käme, ob er Verwandte hätte, oder ob es jemanden in seinem Leben gäbe, der sich um ihn kümmern könnte. Der Alte nahm einen Stift in die zitternde Hand und schrieb die Frage nach seinem Hund auf ein Blatt Papier. Sie lächelte und antwortete, dass Tiere hier nicht erlaubt seien, aber dass er sich keine Sorgen machen bräuchte. Dann legte sie ihre Hand auf seinen Arm, unverbindlich und emotionslos, als würde sie ein Möbelstück berühren. Menschen müssen eine Funktion haben, eine Aufgabe, an der sie gemessen werden, aber er hatte noch nicht einmal ein Zuhause. Sie setzte sich verkehrt herum auf einen Stuhl und legte ihre Arme auf die Rückenlehne.

„Wollen Sie mir wirklich nicht sagen, wie Sie heißen? Ich bin Ärztin und unterliege der Schweigepflicht. Wenn Sie es nicht wollen, dass ich es jemandem erzähle, dann wird es auch niemand erfahren.“ Ihre funkelnden Augen verrieten ihre Verärgerung, aber sie war klug genug, sich zurückzuhalten.

„Mr. Jackson, oder wie auch immer Sie heißen mögen, ich nehme Ihnen nicht ab, dass Sie nicht sprechen und sich an nichts erinnern können. Es deutet absolut nichts darauf hin. Sie haben Arthritis, okay, aber das ist normal in Ihrem Alter. Ein paar Kilo mehr auf den Rippen könnten Ihnen auch nicht schaden, aber alles andere …?“ Sie unterbrach sich selbst, machte eine kurze Pause und versuchte, seinen Blick aufzufangen.

„Ich möchte ein paar Tests machen, um zu sehen, was Ihnen wirklich fehlt, aber wenn Sie mir nicht ein klein wenig helfen, kann ich nichts für Sie tun.“ Er fühlte sich mit einem Male elend, aber er konnte und wollte sein Schweigen nicht brechen. Vielleicht eines Tages, wenn überhaupt, aber nicht jetzt. Er hatte es noch nie jemandem erzählt – sechsunddreißig lange Jahre nicht. Als er die Augen von ihr nahm und durch das helle Fenster in den gepflegten Vorgarten der Praxis blickte, sah sie mit einem resignierenden Seufzer auf und drückte eine Taste der Sprechanlage.

„Lydia …, rufen Sie bitte Mr. Thomstone an. Er soll einen Pfleger vorbeischicken.“ Dann ließ sie sich in den schwarzen Lederstuhl hinter ihrem Schreibtisch fallen und schaute in seine Richtung.

„Es ist ein schönes Heim, Mr. Jackson. Es wird Ihnen sicher gefallen. Ich werde morgen früh wieder nach Ihnen sehen.“ Während sie die Worte sprach, legte sie das Überweisungsformular mit einem Stift vor ihm auf den Tisch. „Unten rechts hätte ich gern eine Unterschrift.“ Er betrachtete ihre elegante Handschrift. Sie war schön und schnörkellos. Er nahm den Stift in die Hand und bewunderte für Augenblicke ihr schönes Gesicht. Dann unterschrieb er mit dem Namen Jackson.

Die grob verputzte Fassade des zweistöckigen Gebäudes war vor nicht allzu langer Zeit weiß gestrichen worden. Die quadratischen Sprossenfenster lagen fast alle im gesprenkelten Schatten hoher Bäume, die bis zu den blassroten Dachschindeln hinaufragten. Ein weiträumiger Park mit blühenden Rosen und üppigen Büschen umsäumten das Haus; davor, in eine niedrige Steinmauer eingelassen, grenzte ein Eisenzaun mit verschnörkelten Streben das Anwesen vom wirklichen Leben ab. Die schwere, von Efeu umrankte Eingangspforte war verschlossen. Aber die meisten, die man hier untergebracht hatte, waren ohnehin zu schwach, um davonlaufen zu können.

Nach der Anmeldung wurde der Alte von einem Pfleger auf sein Zimmer gebracht. Er hieß Tom, war Anfang zwanzig und hatte tiefschwarze, zum Zopf gebundene Haare. Tom war gut einen Kopf größer als er, hatte wachsame, grasgrüne Augen und ein äußerst lebhaftes Lachen, das durch die Korridore hallte, obwohl er selbst nirgends zu sehen war. Seine bronzefarbene Haut verriet ohne Zweifel seine indianische Abstammung. Er trug, abgesehen von den Mokassins aus hellem Wildleder, die weiße Einheitskleidung des Pflegepersonals. Der Alte hielt Tom den Zettel mit No Name’s Namen entgegen, doch er zuckte nur mit den Schultern.

„Ihr Hund?“ Der Mann nickte unsicher.

„Tut mir leid, aber Hunde sind hier strengstens verboten. Aber ich bin mir sicher, dass man einen schönen Platz für ihn finden wird.“ Tom lächelte ihm zu, aber an seiner verhaltenen Miene erkannte man sofort, dass er selbst nicht so recht daran glaubte.

‚Man hat uns also auseinander gerissen‘, schoss es dem Alten durch den Kopf. ‚Zwei namenlose Vagabunden mit verlorenen Seelen.‘ Die Gewissheit, dass sie ihm auch noch seinen letzten Freund genommen hatten, löste in ihm eine sonderbare Bitterkeit aus.

Auf dem langen Flur kam ihnen eine alte Frau entgegen. Ihr Gang war schleppend, und sie zog ihr linkes Bein ein wenig nach. Sie blieb abrupt stehen, schlug ihre zerbrechlichen Arme um sich und starrte den Alten mit toten Augen an. Tiefe Furchen verzerrten ihr Gesicht und ließen es greisenhaft und unwirklich erscheinen. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein, und der Gedanke an die Veränderung eines Menschen macht den Mann unendlich traurig.

Das Zimmer war karg, aber zweckmäßig eingerichtet. Ein runder Tisch mit zwei Holzstühlen, darüber ein gerahmtes Foto von der blumenumsäumten Lombard Street, ein schmales Bett, und gleich daneben auf dem Nachttisch lag eine in Leder gebundene Bibel mit goldfarbenem Kreuz. Direkt neben dem Kleiderschrank befand sich das durch eine Schiebetür abgegrenzte Bad. Der Alte drückte mit der Hand auf die Matratze. Sie war besser, als er erwartet hatte. Er musste sich in seinem Leben schon mit weit weniger zufrieden geben.

Tom legte das Waschzeug und die Handtücher ins Bad und verabschiedete sich. Er war schon fast verschwunden, als er seinen Kopf noch einmal durch die Tür steckte.

„Im Leben eines Indianers, hat Henry Old Coyote einmal gesagt, gibt es keine schlechten Tage. Auch wenn die Zeiten noch so schwierig sind – jeder Tag ist gut. Weil du am Leben bist, ist jeder Tag gut. Denken Sie mal darüber nach. Bis Morgen also.“

Der alte Mann nickte schwach, zog sich aus und stopfte die verdreckten Kleider in einen blauen Plastiksack, den Tom dagelassen hatte. Er stieg in die Dusche und ließ das warme Wasser auf seinen Körper prasseln. Er wusste nicht, wie lange er dort stand, aber es schien ihm genau der richtige Ort zu sein, um über sein verlorenes Leben nachzudenken.

Es war, als würde sich ein Lichtstrahl direkt auf ihn zu bewegen. Er strömte unaufhaltsam in die dunklen Kammern seines Gehirns und vertrieb für Augenblicke die Kälte und den ewigen Nebel. Er sah plötzlich einen Ort, die verwaschenen Farben des Himmels und die Gischt einer tosenden See. Eine Frau beobachtete ihn unaufhörlich. Er wollte ihr Gesicht erfassen, aber es lag im grauen Schatten eines Dachüberstands. Er kniff seine Augen so fest zu, dass die Muskeln zu schmerzen beginnen.

In Momenten wie diesem tauchte plötzlich Normas Gesicht aus der Versenkung auf. Der Wind spielte mit ihrem Haar und wehte schwarze Strähnen vor ihre meerblauen Augen. Deutlich war der Gesang der Orcas zu hören, die vor der Küste Vancouver Islands vorbeizogen. Selbst die Stürme der Zeit konnten die Erinnerung nicht vertreiben. Sie war zu tief verwurzelt, als dass man sie vom Grund seines Herzens herausreißen könnte. Als er die Augen wieder öffnete, war Normas Antlitz verschwunden. Er spürte, wie die Kälte zurückkehrte und die Bilder gefroren.

Nachdem er sich abgetrocknet und rasiert hatte, zog er sich an. Tom hatte ihm ein kariertes Baumwollhemd und eine Jogginghose besorgt. Es war bereits kurz vor Mitternacht, und im Zimmer herrschte eine Totenstille. Er versuchte, Geräusche von außen wahrzunehmen, aber die dicken Mauern hielten die Stille gefangen. Er öffnete das Fenster, und im nächsten Moment strömte die Klarheit der Luft in sein Gehirn. Von seinem Fenster aus sah man nicht einen einzigen Stern am Himmel. Eine Gruppe von ineinander gewachsenen Ulmen versperrten ihm die Sicht und warfen einen ewigen Schatten auf die Mauern. Er befand sich in der Grauzone des Lebens und ließ sich durch trübe und sinnlose Träume treiben. Es war eine Wanderung durch eine verschleierte Morgenlandschaft, nur der weiße Nebel verflüchtigte sich den ganzen Tag nicht.

Sein Dasein beschränkte sich auf einen winzigen Moment. Er spürte eine tiefe Ruhe in sich, als würde er dem Tod allmählich entgegenschweben. Sein Leben raste durch die Weite der Zeit, ruhte für Momente an Orten, deren Namen er mittlerweile vergessen hatte. Er ließ sich aufs Bett fallen, starrte auf das nächtliche Grau der Zimmerdecke und lauschte dem Rhythmus seines eigenen Atems.

Die Nacht war seit langem seine Zuflucht vor der Ungewissheit, und der dumpfe Schmerz, der seinen Körper am Tage beherrschte, nahm etwas ab. Es herrschte eine tiefe Dunkelheit, wie auf dem Meeresgrund, im zerfallenen Rumpf eines gesunkenen Schiffes. Am Ende eines Traums, dort, wo die Hoffnung der Verzweiflung wich, wachte er schweißgebadet auf. Sein linker Arm schmerzte. In seinen Ohren durchbrach ein seltsames Rauschen die Stille. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Wind das Herbstlaub von den Bäumen riß. Er wartete geduldig auf die Sonne und ein Licht, das ihm das Leben zurückbringen würde.

„Weil du am Leben bist, ist jeder Tag gut …“, murmelte er vor sich hin, bevor der Schlaf ihn endlich überwältigte.

Am nächsten Morgen war er schon lange vor dem Wecken wach. Er wartete, bis sich die Korridore mit Leben füllten und machte sich auf den Weg zum Frühstück. Im Vorübergehen hörte er gedämpftes Schluchzen. Hinter einer dieser weißen Türen, dachte er bei sich, starb gerade ein Traum.

Wie in den vielen Jahren zuvor frage er sich, was wohl aus Norma geworden war. Manchmal kam sie ihm in der Erinnerung so nah, dass er glaubte, sie wieder an sich ziehen zu können. Aber sobald er versuchte, seinen Arm nach ihrem Gesicht auszustrecken, zerfiel es zu Staub und wurde mit dem Wind in unerreichbare Ferne davongetragen.

Im Aufenthaltsraum waren die Stühle und Tische in Reih und Glied aufgebaut. Auf dem Rollwagen neben dem Kücheneingang standen beschriftete Thermoskannen mit Kaffee und Tee, auf einem weiteren das Geschirr, Besteck und frisches Obst. Auf den Tischen in kleine Portionen aufgeteilt standen die Brotkörbe, Marmelade, Wurst und Käse. An den mattweißen Wänden hingen Fotos von vergangenen Weihnachtsfeiern; erstarrte Augenblicke, eingefrorenes Lachen von Menschen, die längst gestorben waren.

Eine verblichene Landkarte, die neben dem Bücherregal an der Wand hing, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Sein Zeigefinger glitt mechanisch über die endlosen Highways und die Küste Kaliforniens. Seine Augen schwebten über Orte, die ihm auf seltsame Weise vertraut erschienen. Er presste die Lippen zusammen, versuchte, zerrissene Bilder zu einem Ganzen zu formen. Tom, der ihn eine Weile dabei beobachtet hatte, trat an die Seite des alten Mannes.

„Eine Weisheit der Navajos sagt: ‚Gehe aufrecht wie die Bäume, lebe dein Leben so stark wie die Berge, sei sanft wie der Frühlingswind, und bewahre die Wärme der Sonne im Herzen, dann wird der große Geist immer bei dir sein.'“

Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht des Alten. Tom besaß einfach ein Gespür dafür, Menschen aufzuheitern, dachte er, zog Tom zu einem der Tische und schrieb auf die Rückseite des Speiseplans:

‚Du kannst den Regenbogen nicht haben, wenn es nicht irgendwo regnet‘ – Pueblo-Indianer.‘

Zuerst schien Tom seinen Augen nicht zu trauen. Der Alte sah es an Toms ungläubigen Blick, dass er nicht mit dieser Antwort gerechnet hatte. Dann aber lächelte auch er und schaute links und rechts über seine Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass niemand in der Nähe war.

„Die meisten“, flüsterte Tom, „die zu uns kommen, haben sich längst ihrem Schicksal ergeben. Machen Sie nicht den gleichen Fehler.“ Der Alte musste sich zwingen, nicht nach Toms Hand zu greifen. Ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit ergriff von ihm Besitz. Es kam ihm vor, als tauchte er wieder aus dem kalten, schwarzblauen Wasser der Bucht auf, nach Luft schnappend und glücklich, die Welt in ihren hellen Farben wieder zu sehen. Von einer sonderbaren Befangenheit umhüllt, stand er wie angewurzelt da und bemerkte nicht einmal, dass Tom längst gegangen war.

Nach dem Frühstück begleitete ihn Tom in den Park. Eine Pflegerin mit rotem Pferdeschwanz schob eine alte Frau vor sich her. Sie saß zusammengesunken im Rollstuhl und starrte geradezu apathisch ins Nichts.

„Sie hat mir mal erzählt, dass sie gerne zu Hause sterben möchte“, sagte Tom leise. „Aber ihre Kinder haben die Ärzte gebeten, sie hier zu behalten. Sie sagen, dass sie keine Zeit hätten, sich um ihre kranke Mutter zu kümmern, und außerdem wäre sie hier ohnehin am besten aufgehoben!“ Tom blieb stehen und nagte gedankenverloren an der Unterlippe.

„Ich frage mich die ganze Zeit, ob sie überhaupt in der Lage sind, zu begreifen, was sie ihrer Mutter damit antun. Oder ist die Welt nur herzloser und kälter geworden?“ Tom legte den Kopf in den Nacken, als könnte ihm der Himmel eine Antwort darauf geben. Aber es war nichts zu sehen außer träge vorbeiziehende Wolken.