Mörderische Geest

1. November 2016

Inhalt:

In einer regnerischen Nacht kommt bei einem Autounfall Miriam Erdmann ums Leben. Ihre Tochter Sabrina überlebt schwerverletzt und ist seitdem an den Rollstuhl gefesselt.

Fast genau fünf Jahre später wird eine skelettierte Leiche in einem Waldstück bei Harsefeld gefunden. Bei der Toten handelt es sich um Barbara Schulte, die zwei Jahre zuvor spurlos verschwunden war.

Die Ermittlungen der Kripo Stade bleiben zunächst erfolglos, doch schon nach drei Tagen wird die schrecklich zugerichtete Leiche des Inhabers einer Kfz-Werkstatt gefunden.

Kommissar Cem Kayaoglu von der Stader Kripo muss sich zunächst allein mit dem Fall beschäftigen, weil seine Chefin Ilka Hansen nach Ligurien gereist ist. Als die Oberkommissarin zurückkehrt, ist der Fall noch lange nicht gelöst.

Michael Romahn:
Mörderische Geest

Broschiert: 315 Seiten
Verlag: Medien Contor Elbe; Auflage: 1 (01. November 2016)
ISBN: 978-3-938097-3

zu beziehen unter:
MCE-Verlag oder im Buchhandel

Leseprobe

Prolog

An einem Herbsttag vor 5 Jahren 

Miriam Erdmann wurde unruhig. Seit einer Viertelstunde regnete es in Strömen. Normalerweise kannte sie die Landstraße in Richtung Harsefeld in- und auswendig. Doch an diesem Abend war alles anders. Die Bäume am Straßenrand verschwanden beinahe völlig hinter einem dichten Regenschleier. Das feuchte Laub bedeckte den nassen Asphalt, und der Regen klatschte so stark gegen die Frontscheibe, dass die Scheibenwischer nicht mehr dagegen ankamen. Sie kurbelte das Seitenfenster ein kleines Stück herunter, um ein wenig frische Luft zu schnappen, aber sie schloss es sofort wieder, weil der böige Wind den Regen ins Innere des Wagens trieb.

„Wir sollten das öfter machen“, sagte ihre Tochter Sabrina in das Schweigen hinein. „Ein Abend nur für uns.“
„Ja, das finde ich auch“, antwortete ihre Mutter, ohne den Blick von der Straße zu wenden. „Wir haben viel zu lange damit gewartet.“
„Hat sich Papa schon gemeldet?“
„Ja, er wird morgen früh in Hamburg landen.“

„Stört es dich nicht, dass er so selten zu Hause ist?“ Vor einer Woche war ihr Vater nach Kanada geflogen, um in Saskatchewan einige Betriebe zu besichtigen, die Futtererbsen anbauten. Es gehörte zu seinem Job, eine Art Kontaktpflege, wie er es nannte. Er hasste es, am Telefon oder per E-Mail mit Leuten zu kommunizieren, die er noch nie zuvor gesehen hatte.

„Ich habe mich daran gewöhnt“, antwortete Miriam. „In der Zeit, als wir uns kennen lernten, bin ich ihm manchmal hinterher geflogen, damit wir ein paar Stunden zusammen sein konnten. Später sind wir oft umgezogen, aber an keinem dieser Orte war ich jemals glücklich. Immer dann, wenn ich begann, mich heimisch zu fühlen, zogen wir auch schon wieder fort.“

„Und was passierte dann?“ wollte Sabrina wissen.
„Ich habe das ein halbes Jahr lang mitgemacht“, antwortete ihre Mutter, während die schwachen Scheinwerfer eines Autos vor ihr am Horizont auftauchten. „Aber dann habe ich deinen Vater vor die Wahl gestellt. Ich hatte einfach keine Lust mehr, ihm nachzureisen und unsere Treffen von seinem Terminkalender abhängig zu machen.“

„Wie hat Papa darauf reagiert?“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihrer Mutter. „Anfangs hat er sich noch geziert, aber dann fing er an, seine Termine so zu legen, dass wir länger an einem Ort bleiben konnten. Es war zwar immer noch nicht das perfekte Leben, wonach ich mich sehnte, aber es war immerhin ein Anfang.“
„Hättest du Papa wirklich verlassen, wenn er sich nicht darauf eingelassen hätte?“

Miriam zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber ich bin heute noch froh, dass ich diese Entscheidung damals nicht treffen musste.“
Sabrina lächelte. „Auf jeden Fall musst du sehr überzeugend gewesen sein, sonst hätte er nicht alles für dich aufgegeben.“
„Es hat schon eine Weile gedauert“, gab ihre Mutter zu. „Aber schließlich hat er es doch eingesehen.“

Miriam Erdmann warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und schüttelte verärgert den Kopf. „Wie nah will der Typ noch auffahren?“ Sie drosselte das Tempo, in der Hoffnung, dass das Fahrzeug hinter ihr ebenfalls langsamer werden würde. Doch es kam immer näher, und anscheinend dachte der Fahrer nicht daran, abzublenden.

„Verdammter Idiot!“, stieß sie hervor und stemmte sich gegen das Lenkrad. Sie presste die Lippen zusammen, als sie sah, dass der Fahrer den Blinker setzte und mit einer heftigen Lenkbewegung auf die linke Fahrbahn ausscherte.

Miriam wandte ihren Blick wieder nach vorn, zu der Kuppe, die geradewegs in den Himmel zu führen schien. Das Scheinwerferlicht des entgegen kommenden Autos verschwand kurz in einer Senke, und dann, wie aus dem Nichts, tauchte es so hell und gleißend wieder vor ihr auf, dass es in ihren Augen schmerzte. Sie drückte ihren Körper in den Fahrersitz und versuchte sich an der weißen, durchgezogenen Mittellinie der Straße zu orientieren, die bis zur Kuppe führte und irgendwo dahinter in der Dunkelheit zu enden schien.

„Mama, brems!“, schrie Sabrina, als sie erkannte, dass die beiden Fahrzeuge direkt aufeinander zufuhren. „Das schaffen die nie!“ In diesem Moment trat Sabrinas Mutter das Bremspedal voll durch. Instinktiv riss sie das Lenkrad herum. Sie spürte nur noch, wie das Heck ausbrach und auf dem glitschigen Laub herumwirbelte. Die Reifen quietschten, als das Auto auf die andere Straßenseite geschleudert wurde.

Im nächsten Augenblick folgte ein ohrenbetäubender Knall von zerreißendem Metall. Das letzte Geräusch, das Miriam Erdmann bewusst wahrnahm, war der spitze Schrei ihrer Tochter. Sie wurde nach vorn und dann vom auslösenden Airbag wieder zurückgeschleudert. Splitter der zerbrochenen Frontscheibe flogen durch die Luft, bevor eine unheimliche Stille eintrat. Danach bewegte sich nichts mehr. Weder Miriam noch ihre Tochter bekamen mit, dass die beiden Fahrzeuge den Unfall gerade noch vermieden hatten und in die entgegengesetzte Richtung davonfuhren, als wäre nichts gewesen.

Als Sabrina wieder zur Besinnung kam, war nur das leise Zischen des überhitzten Kühlers zu hören. Als sie die Augen öffnete, sah sie vor sich den Eichenstamm, der sich bis zur Hälfte in den Motorblock geschoben hatte. Rauch stieg auf, zog ins Innere des Wagens und schnürte ihr die Kehle zu. Es dauerte einige Sekunden, bevor sie begriff, was gerade geschehen war. Sie bekam kaum noch Luft.

Ich muss hier raus, schoss es ihr durch den Kopf, irgendwie. Schweiß brannte in ihren Augen. Sie wollte sich aufrappeln, doch die Beine versagten ihren Dienst. Von einer Sekunde auf die nächste spürte sie einen stechenden Schmerz, als würde ein Stromschlag durch ihren Körper jagen.

Ihr Kopf dröhnte. Sie musste sich übergeben. In ihrem Mund breitete sich ein säuerlicher Geschmack aus, dann erst entdeckte sie ihre Mutter. Sie saß immer noch hinter dem Steuer. Überall lag zersplittertes Glas, und es roch nach Benzin. Aus einer klaffenden Wunde an der Schläfe strömte Blut über das Gesicht ihrer Mutter. Tränen stiegen Sabrina in die Augen.

„Mama!“ schrie sie. „Mama, sag doch was!“ Sabrina strich über die blutverschmierte Wange ihrer Mutter. Doch Miriam Erdmann antwortete nicht.
Ihre Augen waren geschlossen, der Kopf seltsam zur Seite gedreht. Sie sah aus, als würde sie schlafen, wenn da nicht das viele Blut wäre, das in feinen Rinnsalen aus der Wunde über ihr Gesicht lief. Der Anblick ihrer Mutter brachte sie beinahe um den Verstand. Sabrina suchte nach ihrem Handy, fand es im Fußraum und griff danach.

„Scheiße“, fluchte sie. „Verdammte Scheiße!“ Mit zitternden Händen starrte sie auf das zerstörte Display. Sabrina warf das Handy weg, schaute sich verzweifelt um. Die Beifahrertür stand einen Spalt breit offen. Sabrina stieß sie auf. Ein kalter Windzug fegte ihr entgegen.

Sie versuchte sich zu konzentrieren, an nichts anderes zu denken, als in diesem Moment ihr Körpergewicht zu verlagern und aufzustehen. Doch die Beine gehorchten ihr nicht. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Es war nicht der Schmerz, der sie verzweifeln ließ, sondern das Gefühl der Hilflosigkeit. Dann wurde ihr schwarz vor Augen, als würde das Leben ganz langsam aus ihrem Körper weichen.